Angola Special | Mein Besuch in Luanda
Angola Special
Heute möchte ich euch von meinem Besuch bei den Strassen- und Favelakindern in Luanda, Angola berichten. Nach vier langen Jahren konnte ich unser Partnerprojekt Nova Chance endlich wieder einmal besuchen. Es war unglaublich bewegend, was ich erleben durfte. Ich flog zusammen mit Bila, dem Gründer des Projekts. Unsere Freundschaft begann vor 22 Jahren in São Paulo, als Bila als angolanischer Kriegsflüchtling nach Brasilien kam und in unserem damaligen Strassenkinderprojekt Nova Chance zu arbeiten begann.
Heute, 22 Jahre später, lebt er in der Schweiz und hat dieselbe Vision, die Demetri und ich in Brasilien umsetzten, zurück in seine Heimat Angola gebracht und zusammen mit seinen Brüdern Kiala und Muassa «Nova Chance Angola» ins Leben gerufen. Das Projekt hilft sowohl Strassen- wie Favelakindern, eine bessere Zukunft zu haben.
Nova Chance Angola – Strassen- und Favelakinder
Ein Freiwilligen-Team besucht die Kinder auf der Strasse in Luanda, verbindet ihre Wunden, bringt ihnen zu essen und schenkt ihnen ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Nöte. Im «Casa Damaris Kofmehl» leben zur Zeit vier ehemalige Strassenkinder und erhalten eine neue Chance für ihr Leben.
Der Vorhof des Heimes verwandelt sich jeden Tag in einen Schulhof für Favelakinder. Zur Zeit besuchen 162 Kinder der Favela morgens und nachmittags das Schulhilfeprogramm von Nova Chance. Sie kommen alle aus prekären Verhältnissen. 61 von ihnen gehen nicht zur Schule, weil die Schule Geld kostet, Geld, das die Eltern nicht haben. Doch in der Zwischenzeit können alle Kinder durch das Schulhilfeprogramm lesen und schreiben, und diejenigen, die die Schule besuchen, haben sich in ihrer schulischen Leistung enorm verbessert. Für 13 von ihnen hat Open Arms das Schulgeld übernommen.
Wir unterstützen Nova Chance seit 2018, und es ist eine enorme Freude, die Veränderung zu sehen, die dank unseren Spendengeldern und dank dem unermüdlichen Einsatz des Nova Chance Teams im Leben dieser Kinder möglich ist. Nebst Nachhilfe bietet Nova Chance auch einen Theaterkurs, Flötenunterricht und einen Karatekurs an, geleitet von einem professionellen Karatelehrer, der den schwarzen Gürtel hat und all seine Freizeit für die Kinder von Nova Chance einsetzt.
Das Begrüssungskomitee
Nun zu meiner Reise: Kaum hatte ich den Flughafen verlassen, wurde ich bereits stürmisch von zwei Dutzend Kindern von Nova Chance umringt, die mich beinahe überrannten vor lauter Freude über meine Ankunft. Ein kleines Mädchen namens Joyce überreichte mir feierlich ein paar rote Plastikrosen.
Tonilson und Valdemir, die vor fünf Jahren noch auf der Strasse lebten und nun im Heim «Damaris Kofmehl» ein neues Zuhause gefunden haben, präsentierten mir stolz ihre Karate-Kleidung mit gelbem Gürtel.
Für beide war es das erste Mal überhaupt, dass sie das Flughafengelände betraten. Denn als sie noch Strassenkinder waren, war ihnen das verboten gewesen. Auch Geschäfte und Restaurants halten Strassenkinder von ihren Räumlichkeiten fern. Kürzlich war Tonilson mit Martha, einer Mitarbeiterin von Nova Chance, unterwegs, als sie an einem McDonalds vorbeikamen. Tonilson bat Martha, ob sie nicht kurz hineingehen könnten. «Ich habe aber kein Geld dabei», meinte Martha. Doch Tonilson sagte, das spiele keine Rolle. Er wolle einfach einmal in einen McDonalds gehen, um zu sehen, wie es sich anfühlt, nicht vertrieben zu werden. Also gingen sie in den McDonalds, und Tonilson durfte sogar etwas Kleines bestellen. Er konnte es kaum fassen, dass man ihn bediente wie jeden anderen auch.
Zurück zum Flughafen: Nur wenige Minuten zu Fuss vom Flughafen entfernt, lebt eine Gruppe von Strassenkindern, die das Team von Nova Chance gut kennt. Auch sie begrüssten mich herzlich, und alle kannten sogar meinen Namen! «Tia Damaris!», riefen sie (Tia heisst Tante), und jeder wollte mich umarmen und ein Foto mit mir machen.
Wir blieben nur kurz und fuhren dann ins Projekt. Als ich eintrat, klatschten und jubelten die 70 Kinder, die gerade Nachhilfe hatten, als wäre ich ein Weltstar, einfach nur, weil sie sich so sehr freuten, dass ich sie besuchen kam. Unglaublich!
Jemand drückte mir gleich das Mikrophon in die Hand und meinte, ich solle den Kindern etwas sagen. Ich kaubte also mein eingerostetes Portugiesisch hervor und sagte, wie schön es sei, hier zu sein und wie sehr Jesus sie lieb habe und wie wichtig ihr Leben sei. Dann fragte ich sie, ob sie vielleicht Lust hätten, ein Lied zu singen. «Jaaaa!», schrien alle wie aus einem Munde. Und bevor ich wusste, wie mir geschah, begannen sie aus voller Kehle eines der Lieder zu singen, das ich ihnen vor einem Jahr per Videobotschaft beigebracht hatte. Kaum beendet, stimmten sie gleich das nächste Lied an, und dann das nächste und dann noch eins und noch eins. Sie konnten tatsächlich sämtliche Lieder, die ich und unser Schweizer-Team für sie eingesungen hatten, auswendig! Und sie sangen und hüpften und klatschten, als gäbe es kein Morgen. Ich war hin und weg! Wir beendeten unseren kurzen Besuch und fuhren durch die verstopften Strassen von Luanda zu Bila nach Hause, um uns endlich von der langen Reise auszuruhen. Was für ein Empfang in Angola!
Besuch in der Favela
Am nächsten Tag erzählte ich den Favelakindern die Geschichte von David und Goliath und wir sangen erneut, bis ich fast keine Stimme mehr hatte. Es war grossartig.
Am Samstag besuchten wir die Familien von zwei der Kinder, die am Schulhilfeprogramm teilnehmen, in der Favela, José und Sandra. Der Gestank in den engen Gassen ist gross. Überall hat es Löcher, und man muss aufpassen, wo man hintritt. In der Mitte der ungeteerten Wege läuft das Abwasser hindurch. Die Not der Menschen, die hier leben, ist gross. Die Familienverhältnisse sind kompliziert. José und seine Geschwister leben bei ihrem Vater, da die Mutter abgehauen ist. José ist krank und fehlt deswegen häufig im Nachhilfeprogramm. Er müsste dringend einmal von einem Arzt untersucht werden, doch der Vater lässt es bleiben aus Sorge, was dabei herauskäme und dass die Behandlung Geld kosten könnte, Geld, das er nicht hat. Bila versprach ihm, wir würden uns darum kümmern.
Sandra wohnt bei ihren Grosseltern, da ihre Mutter gestorben und ihr Vater nach ihrer Geburt abgehauen ist. Zuständig für sie ist irgendein Onkel, der sich aber nicht gross um sie schert. Und die Grossmutter hat kein Geld und muss sich auch noch um ihren Mann kümmern, der vor Jahren einen Schlaganfall hatte und seither einfach am Boden liegt oder sich zwischendurch mit Ach und Krach auf einen Stuhl setzen kann. Sandra ist eines der Mädchen, dem Open Arms die Schule ermöglicht. Woher überhaupt genug Geld für Essen da ist, ist mir ein Rätsel. Oft helfen irgendwelche Nachbarn aus. Wenn Tonilson oder Valdemir ihre Familien besuchen, wollen die beiden immer Essen vom Projekt mitnehmen, weil sie sagen, sonst würden sie nichts zu essen bekommen. Hunger und Vernachlässigung ist auch oft der Grund, warum Kinder auf die Strasse abhauen. Es kommt auch vor, dass die Kinder fortgejagt werden, weil die Nachbarn behaupten, sie hätten einen Dämon in sich. Deswegen will auch niemand etwas mit den Strassenkindern zu tun haben. Kiala sagte mir, am Anfang wären sie von allen Seiten eindringlich davor gewarnt worden, Strassenkinder aufzunehmen, da diese besessen seien. «Aber in der Zwischenzeit haben die Leute ihre Meinung geändert», erzählte er mir mit einem Lächlen. «Sie haben gemerkt, dass es einfach nur Kinder sind.»
Bei den Strassenkindern
Von der Favela gingen wir zu Fuss weiter zu den Strassenkindern. Wir trafen einen Burschen, der sich an mich erinnerte. Ich hätte ihn vor vier Jahren interviewt, sagte er. Er zeigte uns die Müllcontainer hinter dem Flughafen, in denen sie jeweils nach Essensresten suchten und die Brücke, unter der sie Zuflucht suchen, wenn es regnet.
Hinter einem Fussballstadion besuchten wir eine weitere Gruppe von Strassenkindern. Es waren mindestens zwei Dutzend Kinder, die meisten von ihnen kaum zehn Jahre alt. Bis auf einige waren alle zugedröhnt mit Kerosin. Ja, Kerosin! Anders als die Strassenkinder in Brasilien, die Schusterklebstoff schnüffeln, schnüffeln die Kinder hier tatsächlich Kerosin von Flugzeugen. Die Flüssigkeit befindet sich in Plastikflaschen, durch welche sie die giftigen Dämpfe einatmen.
An einer langen Mauer hatten sie sich behelfsmässig mit Tüchern und Brettern eine Behausung zusammengebaut. Ich durfte hineinklettern und sang mit den Kindern ein Lied. Danach kaufte Martha etwas zu essen für die Kinder und wir verabschiedeten uns wieder.
Auf dem Rückweg erzählte mir Kiala, dass diese Gruppe Streit hätte mit der Gruppe, die näher beim Flughafen haust. Einmal wäre er zufällig vorbeigekommen, und sie wären mitten in einer Schlägerei gewesen. Er blieb stehen und sagte laut: «Dieser Streit hört jetzt sofort auf!» Augenblicklich legten alle ihre zugespitzten Bretter nieder und entschuldigten sich bei Kiala. Es war ihnen peinlich, dass er sie so wild gesehen hatte. Die Passanten, die das Ganze beobachteten, verstanden die Welt nicht mehr. Wie konnte ein einfacher Mann einen Streit zwischen verfeindeten Strassenkinderbanden schlichten? Mit einer einzigen Aufforderung, damit aufzuhören? Kiala schmunzelte, als er sich daran erinnerte und meinte dann: «Die Leute haben Angst, von den Kindern ausgeraubt zu werden. Aber uns würden sie niemals ausrauben. Im Gegenteil. Sie beschützen uns. Sie respektieren uns sehr.»
Das Abschiedsfest
Am letzten Tag meiner Angola-Reise organisierte das Team ein grosses Abschiedsfest. Es gab Chips und kleine Geschenke für alle Kinder, eine witzige Theateraufführung, eine eingeübte Choreografie der Karategruppe und sogar ein Flötenspiel, das zwar ziemlich schief klang, aber trotzdem begeisterten Applaus auslöste.
Danach verteilte Bila ein paar Blasinstrumente, die er von einer Schweizer Brassband geschenkt bekommen hatte, damit die Kinder ein Instrument lernen können. Er hat auch schon einen Musiklehrer für die Kinder: einen langjährigen Freund von ihm, den er einst selbst unterrichtete und der nun in der Band des angolanischen Präsidenten spielt. Für mich war es eine besondere Ehre, Valdemir das Kornett meines Grossvaters überreichen zu können. Ich bin sicher, mein Grossvater würde sich riesig darüber freuen, dass sein Instrument nun einem ehemaligen Strassenjungen in Angola gehört.
Als nächstes durften die Kinder mir Fragen stellen. Ich dachte, es würden Fragen kommen wie: «Was ist dein Lieblingsessen?» oder «Wie alt bist du?» Nie hätte ich erwartet, dass ein kleines, vielleicht siebenjähriges Mädchen mich fragen würde: «Tia Damaris, warum hilfst du uns?» Das hat mich zutiefst bewegt. Nachdem das Fest zu Ende war, wollten die Kinder mich unbedingt zum Abschied umarmen, und da es immerhin 162 Kinder waren, standen sie tatsächlich Schlange, nur, um mich zu drücken und mir eine gute Reise zu wünschen. Joyce, das Mädchen, das mir am Anfang Rosen überreicht hatte, klammete sich weinend an mich und wollte mich nicht mehr gehen lassen.
Als alle Kinder gegangen waren, blieb nur noch das Team zurück und die vier Jungs, die im Heim wohnen mit ein paar ihrer Freunde. Sie holten ein Fahrrad, Rollschule und ein Rollbrett hervor und kurvten damit fröhlich durch den Hof. Ich beobachtete sie eine Weile und sagte zu Kiala: «Hier dürfen sie einfach Kinder sein, das ist so schön.» «Ja», sagte Kiala. «Die Kinder aus der Favela wollen oft gar nicht mehr nach Hause gehen nach der Nachhilfe. Das hier ist wie ein Paradies für sie.» Nach einer Weile kam Martha mit einer riesigen Torte herein, denn Jonathan, der kleine Bruder von Valdemir, der ebenfalls im «Casa Damaris Kofmehl» lebt, hatte Geburtstag. Er wurde 10 Jahre alt. Wir sangen Happy Birthday, und jeder aus dem Team sagte ihm, wie wertvoll er sei. Jonathan stand nur da, während ihm die Tränen über die Wangen liefen. Dies war seine allererste Geburtstagstorte. Er hatte noch nie Geburtstag gefeiert. «Ich weiss, dies ist dein erster Geburtstagskuchen», sagte Martha. «Und ich verspreche dir, es werden noch viele weitere folgen.»
Danke für deine Spende! Sie verändert Leben!
Und so ging meine Zeit in Angola zu Ende und Bila und seine Brüder brachten mich zum Flughafen. Zurück bleiben so viele Eindrücke. Ich staune über das Team von Nova Chance, das sich mit einer Liebe und Leidenschaft für diese Kinder aufopfert, als wären es ihre eigenen. Ich bin bewegt von der Not, die ich gesehen habe, aber auch voller Hoffnung, weil Nova Chance wirklich einen Unterschied im Leben dieser Kinder macht. Ich möchte allen danken, die für Angola spenden und euch sagen: Eure Hilfe kommt wirklich an und verändert das Leben so vieler Kinder nachhaltig. Bitte spendet auch weiterhin für Angola! Ob mit einem einmaligen Betrag oder regelmässig: Jeder Franken, jeder Euro zählt. Mein Wunsch ist es, dass wir Nova Chance in Zukunft noch viel mehr finanziell unterstützen können, denn vieles bezahlen Bila und seine Brüder aus eigener Tasche. Darum: Hilf doch mit, dass wir diesen Kindern eine Zukunft geben können. Ja, die Not ist gross, und ja, wir können nicht allen helfen. Aber für jedes einzelne Kind lohnt es sich. Tausend Dank dafür!
Wenn du Open Arms und unsere vielfältigen Dienste unterstützen möchtest, geh einfach zu Spenden. Dort findest du alle Angaben, IBAN und QR-Codes. Du kannst auch per Twint etwas einzahlen. Wenn du spezifisch für Angola spenden möchtest, schreibst du einfach «Angola» dazu. Ansonsten wird es einfach dort eingesetzt, wo es gebraucht wird. Vielen Dank für deine Hilfe!
Mit Power & Love
Damaris Kofmehl